Für Literaturwettbewerbe Kurzgeschichten zu schreiben, gefällt mir. Manchmal schreibe ich dann zwar etwas zu dem gewünschten Thema, reiche es  aber doch nicht ein. Die folgende Geschichte ist so entstanden. Das Thema musste etwas mit dem Saarland zu tun haben.


Am Staden

„Wenn ich es dir doch sage. Wir sind der Osten des Westens.“ Susanne ist genervt. Gerade eben hatte sie einen Artikel über die Arbeitslosenquote in Deutschland gelesen. „Und es ist egal, worum es geht“, meint sie, „wir haben bei statistischen Auswertungen meistens die gleiche Farbe, wie die östlichen Bundesländer. So, als hätte sich Restdeutschland zwischen uns abgehängte Regionen geschoben.“ Auch Ingrid erinnert sich an diverse Auswertungen. Selbst bei den anfänglichen Coronaausbrüchen war das Saarland kurzfristig ähnlich niedrig wie der Osten.

„Selbst bei Corona. Und warum? Weil hier anfänglich einfach keine Socke ´nen Test hatte oder weil der Saarländer so gerne zu Hause ist und sich nicht so sehr durchmischt.“

„Ich kann es nicht mehr hören“, meint Ingrid. „Deine Saarlandklischees gehen mir auf die Nerven.“

„Das blöde an Klischees ist halt, dass meistens etwas Wahres dran ist. Wenn ich das schon höre: Zu Hause ist es doch am schönsten. Wenn man natürlich nirgendwo anders hinfährt, merkt man gar nicht, dass unsere Straßenzüge mit den Eigenheimen in Eternitverpackung nur als optische Grausamkeiten taugen.“ Susanne ist es leid. Sie ist in Saarbrücken aufgewachsen, hat aber in Freiburg studiert und eine Zeitlang in Hamburg, Zürich und Kopenhagen gearbeitet. „Ich finde ja gar nicht, dass es überall auf der Welt aussehen muss, als wäre alles, wie aus dem Ei gepellt. Aber die Leute sollten dazu stehen und ehrlich sagen, dass es hier schlicht mistig aussieht.“

„Du redest heute wieder ein Zeug“, meint Ingrid. Sie atmet tief ein, in der Hoffnung, dass sich auch Susanne etwas Sauerstoff gönnt und damit ihre Gereiztheit wenigstens etwas abgemildert wird. Es ist ziemlich trist heute, die Wolken scheinen tiefer zu hängen, als sonst. In der letzten Woche kletterten die Temperaturen bereits über 25°C, was die Radiomoderatoren immer wieder als „offizielle Sommertemperatur“ im Wetterbericht anpreisen mussten, besonders, da erst April ist. Aber heute ist es wieder kälter. Susanne und Ingrid sitzen im Biergarten an der Saar und halten sich jeweils an einem Radler fest.

„Was ist das überhaupt für eine bescheuerte Begründung? Die Verkäuferin oder besser gesagt, die Nicht-Verkäuferin meinte zu mir, es wäre zu kalt für Merguez. Gibt es jetzt auch schon eine offizielle Merguez-Verkaufstemperatur?“

Ingrid rollt mit den Augen und schaut sich verstohlen in alle Richtungen um. Ist denn heute niemand da, der Susannes Laune verbessern könnte? Sie schaut sich auch die Nicht-Verkäuferin an, die allerdings offensichtlich einem älteren Herrn seine Rostwurst reicht.

Ungläubig merkt sei an: „Aber sie verkauft doch Würste, ich hab‘s gerade gesehen.“

„Ja, verdammt“, meint Susanne nun noch gereizter, „das hab ich doch gesagt. Nur eben keine Merguez. Hörst du mir überhaupt zu?“

„Dann stell dich nicht so an und iss halt ´ne Rostwurst. Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du unerträglich bist, wenn du Hunger hast?“

Tatsächlich steht Susanne nun auf, läuft schnurstracks auf den Grillstand zu und kommt mit einem Schwenker im Brötchen zurück.

„Willst du auch mal beißen?“, fragt sie.

Ingrid schüttelt den Kopf. Sie versucht nun schon seit fünf Monaten, sich vegetarisch zu ernähren. Aber Susanne ignoriert dies konsequenter Weise. Wegen des schlechteren Wetters ist es noch nicht allzu voll am „Staden“, dem Grünbereich Saarbrückens direkt an der Saar mit Blick auf die Autobahn.

„Kommst du nun eigentlich morgen mit ins Theater?“ fragt Ingrid, hoffend nun ein Thema gefunden zu haben, das weniger Aufregung verursacht.

„Du meinst nach Saarlouis? Gibt es denn tatsächlich noch Karten?“

„Ich befürchte schon.“ 

„Das gibt es doch nicht. Jetzt haben wir einmal die Pariser Tanzkompanie bei uns und es ist nicht ausverkauft? Wobei ich noch immer nicht weiß, ob die bei Vertragsunterzeichnung einfach gar nicht gemerkt haben, dass sie in Saarlouis und nicht in Saarbrücken auftreten werden. Hinterher heißt es dann wieder: „ach, hätte ich gewusst, dass die so gut sind, wäre ich hingegangen.“

„Und? Kommst du mit?“

„Ballett?“

„Ja.“

„So mit langen weißen Strumpfhosen?“

„Nein, kein Schwanensee. Schau es dir an und beschwer dich erst hinterher, falls es dir nicht gefallen hat.“

Susanne atmet tief ein. Ja, prinzipiell muss man hingehen, allein schon deshalb, damit solche Veranstaltungen nicht gänzlich wegfallen. Andererseits, wenn alle nur aus Mitleid hingehen, könnte man es natürlich auch sein lassen. Susanne zückt ihr Handy und kauft sich online ein Ticket

 „Zufrieden?“

Ingrid lächelt und nickt.

„Kommen Christian und Thomas auch noch?“

„Zum Ballet?“, fragt Ingrid irritiert.

„Nein, jetzt heute hier was trinken.“

„Ja, sie bringen auch noch Klaus mit. Ist heute sein letzter Tag in Saarbrücken.“

Klaus kommt ursprünglich aus Mannheim, hat aber am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz in Saarbrücken promoviert und tritt nun eine Stelle in München an.

„Er wird mir echt fehlen“, meint Susanne, „aber was soll ich sagen: es ist hier halt nicht so schön, wie anderswo.“

„Hört denn das heute nicht mehr auf bei dir?“, fragt Ingrid, mittlerweile auch genervt.

„Stört es dich denn nicht? Die paar Leute, die von außerhalb kommen und auch ein paar neue Ideen mitbringen, ziehen entweder weiter für ihren nächsten Karriereschritt oder sie verlieben sich in Einheimische und werden von denen derart eingenordet, dass nix Neues übrig bleibt. So kriegen wir hier nie eine ansprechende Vielfalt hin. Zu viele Leute, die meinen, dass es schön wäre, so wie es ist. Dann ändert sich nix. Zumindest nix zum Guten. Und plötzlich, wenn das bisschen Industrie noch wegstirbt, wird getan, als könnten wir nix dafür.“

„Naja, aber wir können doch nun wirklich nix für Corona und die Wirtschaftsflaute und nix für die unfairen Handelsbedingungen zum Beispiel mit China.“

„Das nicht. Aber wir könnten besser damit umgehen und nicht so tun, als wenn es entweder gut so oder nicht zu ändern wäre.“

„Ich wollte heute eigentlich nur gemütlich etwas mit dir trinken“, meint Ingrid, „aber du verdirbst mir jetzt doch noch die Laune.“

Eine Weile sagen beide nichts und beobachten nur die Menschen um sich herum. Es sind einige Pärchen mit Kinderwägen, Laufrädern und Babys in Tragetüchern unterwegs. Die meisten haben dunkle Ringe unter den Augen und wären wahrscheinlich einfach nur froh, wenn ihre Kinder einmal nicht schon um sechs Uhr morgens fit wären. Ein paar ältere Herrschaften in ihren Sonntags-Mittags-Ausgehklamotten flanieren ebenfalls an der Saar entlang und genießen, dass sie dazu noch in der Lage sind. Mehrere Grüppchen von Jugendlichen und Erwachsenen, die sich noch immer dazugehörig fühlen, sitzen im Kreis auf dem noch etwas feuchten Gras und rauchen Selbiges. Ingrid muss laut auflachen. Sie beobachtet gerade, wie der etwa zwei Jahre alte Junge die Eiskugel, die ihm gerade  runter gefallen war, beherzt wieder auf sein Waffelhörnchen setzt. Dass die Kugel nun offensichtlich mit Sandstreuseln bedeckt ist, scheint ihm besonders gut zu gefallen. Ingrid macht das gerne, Leute beobachten. Aber im Gegensatz zu anderen, die besonders gern über das Aussehen der Beobachteten herziehen, interessiert sie nur, was die Leute so tun. Welches Pärchen sich gerade streitet (meistens die mit Kindern) oder welches Pärchen tatsächlich nur Augen für den jeweiligen Partner hat (meisten die ohne Kinder). Und sie mag die Menschen hier. Das ist nämlich schon anders, als in den großen Städten und vor allem anders, als in den reichen Städten. Hier kommt man doch viel besser miteinander ins Gespräch. Erst letzte Woche fand sie sich bei vormals Wildfremden im Garten bei einer Spontanparty wieder. Dort hatte sie Dieter kennengelernt, der trotz des etwas altbackenen Namens total frisch, charmant und witzig rüberkam.

„Ich treffe mich heute übrigens noch mit Dieter“, meint Ingrid zu Susanne.

„Wo geht ihr hin? Ballett?“

„Sehr witzig. Nein, wir treffen uns bei ihm zu Hause und dann schaun wir mal weiter.“

„Klar“, meint Susanne, „in Saarwellingen ist dann bestimmt noch richtig viel los.“

Sie kann es einfach nicht lassen.

Von weitem sieht sie plötzlich Christian und Thomas mit Klaus im Schlepptau.

Klaus schaut recht mürrisch. „Was ist los, Klaus? So traurig von hier wegzuziehen?“

„Nee, mein Tüv ist abgelaufen und das hat doch tatsächlich eben ein Polizist im Vorbeigehen bemerkt und mich verwarnt. Jetzt muss ich mich darum auch noch kümmern. Das nervt.“

„Aber sei ehrlich: Freust du dich auf deine neue Stelle und die neue Umgebung?“

„Ja, schon, aber ich werde auch einiges von hier vermissen. Bis auf dein Gemeckere.“

 

Jetzt muss Ingrid wieder laut auflachen, während Susanne ungewöhnlicher Weise einfach sprachlos ist.

Hat dir die Geschichte gefallen? Ich freue mich über Rückmeldung.